Corona-Tagebuch:
22. April 2020

Nein, ich will hier nichts beschönigen. Das ist schon echt übel alles. Irritierend. Bedrückend. Belastend. Und auf die Dauer ziemlich langweilig obendrein. 

Aber zwischendurch flackern immer mal wieder Gedanken auf, dass diese Krise auch positive Aspekte haben muss. Die natürlich völlig subjektiv sind. Die die Einschränkungen und Verluste bei weitem nicht aufwiegen. Die ich aber trotzdem in meinem Corona-Tagebuch mal vorschlagen will. Zumindest um mich später daran zu erinnern. Und um zu sehen, was davon eines fernen Tages übrig geblieben ist.

Hier sind sie: 10 Versuche, der Krise etwas Positives abzugewinnen

1. Mehr Anteilnahme

Unser übliches „Wie geht’s?“ ist natürlich eine Floskel. Und das ist nichts Schlimmes. Vervollständigt in der Regel mit „Gut – und selbst?“. Vorsichtigere Menschen bevorzugen ein „Gut soweit“. Bewährt ist auch „Muss ja“, in dem eine diffuse Sorgenschwere mitschwingt. „Alles gut“ ist im Moment ziemlich out.

In der Krise aber hat unser „Wie geht’s?“ etwas von seiner Floskeligkeit verloren. Zumal wir oft noch ein „Wie kommt ihr klar?“ dranhängen. Und dann folgt in den meisten Fällen eine kleine Unterhaltung, die auch eine kleine Annäherung ist. Die es vor der Krise seltener gegeben hat.  

2. Mehr Hilfsbereitschaft

Neben allem Verzicht und Verlust nervt im Moment die eigene Hilflosigkeit. Aber dieses Gefühl provoziert auch Widerstand. Den trotzigen Willen, sich gegen diese Misere zu behaupten, wenn auch nur ein bisschen. Zum Beispiel indem man Masken näht, während irgendwo Experten noch über deren Sinn debattieren. Kann zumindest nicht schaden.

Und indem man anderen hilft. Das braucht nur eine Kleinigkeit zu sein, die ein kleines Problem löst. Eine kleine Tat nur, die aber ganz nebenbei die Gewissheit stärkt, dass wir die Dinge ein wenig besser machen können. Das ist uns jetzt in der Krise wertvoller geworden.

3. Wertschätzung für Lebensmittel

Dass Lebensmittel knapp werden, braucht man in Deutschland zwar nicht zu befürchten. Aber da wir jeden Einkauf als Risiko verstehen, hat das – vorrangig bei meiner Frau – zu erhöhter Sorgfalt und bewussterer Planung geführt. Damit bei komfortabler Bevorratung möglichst nichts verdirbt. Auch, weil wir nicht kurz entschlossen ins nächste Restaurant gehen können. Und uns nicht andauernd etwas kommen lassen wollen. 

Aber die erhöhte Wertschätzung für Lebensmittel und unsere Ernährung scheint auch eine Art Antwort auf die Krise zu sein. Weil wir uns durch Corona nicht auch noch das Essen vermiesen lassen wollen. Das wäre ja noch schöner. Deshalb wagen wir uns neuerdings an die Mysterien von Hefe- und Sauerteig. Weil Brot backen so herrlich ursprünglich ist. Und selbst gemachte Pizza irgendwie besonders schmeckt. 

4. Ein Waldspaziergang hat was

Damals, vor Corona, haben wir gelegentlich eine Runde durchs Viertel gedreht. Um zu sehen, was so los ist. Um frische Luft zu schnappen. Und natürlich wegen der Bewegung.  

In der Isolation ist der Spaziergang wichtiger geworden. Weil wir uns weniger bewegen – auch wenn wir die Treppe nehmen und nicht den Aufzug. Gleichzeitig hat der Bummel durchs Viertel sehr an Reiz verloren. Weil social distancing in der Stadt letztlich anstrengend ist.

Natürlich hätten wir schon längst mal raus fahren können, ins Grüne. Um uns das zu gönnen, was einen Waldspaziergang zu einem schönen Erlebnis macht. Sind wir aber nicht. 

5. Es geht auch einfacher

Überhaupt erweist sich die Krise immer mal wieder als Impulsgeber. Dinge, die normalerweise kompliziert sind oder Zeit brauchen, gehen plötzlich einfacher und schneller. Ein Rezept zu bekommen bei hinlänglich bekanntem medizinischem Hintergrund zum Beispiel. Das geht neuerdings telefonisch. Nichts gegen den Plausch mit meinem Hausarzt, aber das ist toll.

Exklusiv für die Nachbarn in unserer Anlage haben wir eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet. Ohne große Diskussion. Zettel in die Briefkästen – wer will, der kann. Das ging erstaunlich schnell und wurde sehr gut angenommen. Bewährt hat es sich auch schon. Als jemand mal kurz ein Startkabel brauchte, zum Beispiel. Oder einen Liter Milch. Oder für die Ankündigung des nächsten Balkonkonzerts. Oder bei Fragen zu den Stromzählern.

In der Arbeitswelt ist das Thema Flexibilisierung von Zeit und Ort nicht neu. Stichwort Home Office, Videokonferenz, Tools für die virtuelle Zusammenarbeit. Auch da hat die Krise viele Entscheidungsprozesse beschleunigt, Veränderungen erzwungen. Dienstreisen gestrichen. Meetings verzichtbar gemacht. Ob sich der Trend zur Dezentralisierung der (Büro)-Arbeitswelt auch in normalen Zeiten fortsetzt, wird man ja dann sehen.

6. Was kann ich glauben?

In der Krise wird schmerzlich spürbar, wie wenig wir wissen. Die Medien präsentieren uns zwar mit Hilfe der Johns Hopkins Universität täglich die neuesten Zahlen zu Infizierten, Genesenen und Verstorbenen. Aber ist die Verdoppelungszeit nicht aussagekräftiger? Oder die Reproduktionsrate? Wieviel Prozent der Bevölkerung sind eigentlich betroffen? Und wie vergleicht sich das von Land zu Land? Fragen über Fragen. Und so viele Antworten.

Wenn ich mir eine einigermaßen fundierte Meinung bilden will, dann muss ich in Krisenzeiten sorgfältig auf die Quellen achten. Wo doch selbst Beiträge in den Haupt-Abendnachrichten Fragen aufwerfen. Weil Einzelschicksale scheinbar wahllos herausgegriffen werden. Weil Korrespondenten komplexe Sachverhalte auf 90 Sekunden verdichten müssen. Und weil die üblichen Passantenbefragungen in der Fußgängerzone nun wirklich nicht zu mehr Klarheit beitragen. 

Das alles war früher auch so. Aber jetzt haben verlässliche Informationen mehr Bedeutung. Wenn ich wenigsten einigermaßen den Überblick behalten will.

7. Neuer Respekt

Kurz gesagt: Die Verantwortung, die die Mitglieder unserer Regierung im Moment tragen, möchte ich nicht im Ansatz haben. Isoliert betrachtet und im Vergleich mit anderen Ländern hat das in mir einen neuen Respekt geweckt. Die Umfragewerte zeigen, dass ich damit nicht allein dastehe. 

Wie dünn dieses Eis jedoch ist, wird sich in den kommenden zwei Wochen zeigen. Wo doch angesichts behutsamer Lockerungen die deutsche Diskussionsfreude gerade wiedererwacht.

8. Und nochmal Respekt

Dass die Menschen in Heil- und Pflegeberufen, in der Landwirtschaft, an Supermarktkassen und in zahllosen alltäglichen Servicebereichen von Post bis Müllabfuhr mehr Anerkennung verdienen: Das ist in den vergangenen Wochen deutlicher geworden. Dass sich diese Anerkennung nicht nur in abendlichen Applaus-Happenings, sondern in verbesserten Arbeitsbedingungen und Verdiensten ausdrücke muss – darüber wird zur Zeit verstärkt diskutiert. Hier gehört dann der übliche „Bleibt zu hoffen …“ Satz hin.

9. Vertrautes neu denken

Vor vielen Jahren habe ich den Inhaber eines Gitarrengeschäfts (in Bensberg) gefragt, wie er angesichts von Ebay überleben kann. Seine Antwort: „Ich überlebe nur durch Ebay.“ 

Restaurants und Geschäfte standen seit Beginn der Corona-Krise vor einer einfachen Wahl: Geschlossen bleiben und auf die Insolvenz zutreiben, oder neue Wege gehen. 

Es ist keinem Restaurant zu wünschen, dass es sich auf Take-away-Bestellungen beschränken muss. Es ist keiner Buchhandlung und keinem Modegeschäft zu wünschen, dass es den Kunden nur online begegnet.

Zu begrüßen ist aber, dass viele Kunden diese Bemühungen honoriert haben. Indem sie bewusst lokal eingekauft haben. Weil plötzlich klar wurde, dass da etwas kaputt gehen könnte, wird, das wir doch sehr schätzen. Und schützen müssen.

10. Eine neue Kalibrierung von „schlimm“

So hat es unser Sohn neulich auf den Punkt gebracht. Als Antwort auf meine Frage im Hinblick auf diesen Tagebuch-Eintrag, ob man der Corona-Krise auch etwas Positives abgewinnen könne. 

Zunächst lautete die Antwort – nach längerer Überlegung – schlicht „Nein“. Weil die positiven Aspekte in keinem Verhältnis stehen zu den Bedrohungen, Einschränkungen, Ängsten und dem Leid, das dieses Virus und die Gegenmaßnahmen verursachen.

Aber dann kam doch noch dieser Gedanke, der womöglich als einziger positiver Aspekt der Krise Bestand hat. 

Sie liefert uns eine neue Kalibrierung von schlimm. 

Und das, weiter gedacht und gelebt, ist tatsächlich viel wert. 

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