Corona-Tagebuch:
2. Juni 2020

Die Stimmung hat sich gedreht. Lang ist’s her, dass wir um Punkt 21 Uhr auf unserem Balkon gestanden und geklatscht haben für die tapferen Kämpfer an der Corona-Front. Der Beifall um uns herum, hier in Ehrenfeld, war zwar nicht wirklich überzeugend gewesen, aber immerhin.

Eine Welle der Hilfsbereitschaft hatte das Land ergriffen, damals, im März 2020. Es schien mir, als wären die Menschen ein wenig freundlicher als sonst. Wir haben uns Gedanken gemacht um Alleinstehende und Alleingelassene, einige haben fleißig Masken genäht, andere Brot gebacken. Mehl und Hefe waren knapp und Klopapier seltsamerweise auch.

Doch irgendwann im April hatte ich mich sattgesehen an den dramatischen Bildern aus Italien und Spanien, aus Brasilien oder New York, von weit weg jedenfalls. Hatte genug von Zahlen, die Fakten vorgaukeln sollten, aber schon auf den ersten Blick willkürlich erschienen. Hatte mich sattgehört am teils widersprüchlichen Geraune der Virologen und den Wir-schaffen-auch-das-Ermutigungen der Politik. 

Der Reiz des Ausnahmezustands ist verflogen

Denn die Corona-Tristesse mit ihren Mahnungen und Einschränkungen passte nicht mehr zu meiner eigenen Erlebniswelt. In der es im gesamten Freundes- und Bekanntenkreis keinen Infektionsfall gab. In der die Grenze zwischen Vorsicht und Hysterie verschwamm. Während Kliniken, die gestern noch den Notstand ausgerufen hatten, plötzlich über mangelnde Auslastung klagten. 

Der Reiz des Ausnahmezustands ist verflogen, doch Normalität will sich trotz schrittweiser Lockerungen nicht wieder einstellen. Vor Bäckereien, Baumärkten, Garten- und Möbelzentren bilden wir artig Schlangen, um drinnen, vorschriftsmäßig maskiert und zombiehaft, unser vertrautes Konsumentenglück zu suchen. Und was ist mit Urlaub? Was ist mit Fußball? Wann endlich machen die Schwimmbäder wieder auf? Und vor allem die Kitas? Wegen der Kinder, versteht sich. 

Was für Normalität notwendig ist, empfindet jeder offensichtlich anders. Dass von Normalität noch keine Rede sein kann, darin besteht allerdings Einigkeit.

Hechtsprung in die Irrationalität

Als wäre das Land aus einer Art Trance erwacht, brodelten im Mai Frust und Empörung hoch. Es wurde darüber diskutiert, ob man nicht ein paar Todesopfer in Kauf nehmen müsse, zum Wohle der Allgemeinheit. Oder zumindest Risikogruppen einfach isolieren sollte, so dass drumherum das Leben endlich weitergehen kann. Die politische Führungskompetenz driftete vom Bund in die Länder, die sich in einigen Dingen einig sind und in vielen Dingen nicht. Das „wir“ begann zu bröckeln. 

Das war schade, aber nachvollziehbar. Dass Bill Gates jedoch hinter all dem stecken soll, wahlweise auch andere böse Mächte, das plötzliche Aufkochen von Verschwörungstheorien jeglicher Schattierung, vervielfältigt in den etablierten, eifrig geliked und geteilt in den sozialen Medien – diesen Hechtsprung in die Irrationalität empfand ich doch als befremdlich. 

Ärgerlich, dass schlichtere Naturen ihren Machtkampf mit der Polizei wieder aufnahmen und die politischen Außenseiter – seit Ausbruch der Krise angenehm unsichtbar – mit neu erwachter Verve in das Gezeter einstimmten. Mit feinstem Gespür für die Volksseele tritt schließlich die „Bild“ dem Virologen Christian Drosten ein paarmal kräftig in die Kniekehlen.  

Coronazeit strengt an

Ja, die Stimmung hat sich gedreht und lässt bei mir keine rechte Freude an sinkenden Fallzahlen oder dem seit Wochen bombastischen Wetter aufkommen. Zeit hätte ich ja, aber es mangelt mir etwas an Lust und Energie. Weil Corona Gemeinsamkeit sabotiert und letztlich erst ein Impfstoff helfen wird. Der wird zwar in Rekordtempo kommen. Aber Coronazeit strengt an.

Gleichzeitig sage ich mir: Elend auf hohem Niveau. Denn eigentlich geht es mir, geht es den Menschen in meinem engeren Umfeld ganz gut. Letzte Woche haben wir uns zum ersten Mal wieder mit Freunden getroffen, vorsichtig, im Garten, auf dem Balkon. Am Wochenende dann zum ersten Mal seit gefühlten Ewigkeiten den Nachmittag mit unseren Enkelkindern verbracht – draußen und mit Abstand. Das war sehr schön. 

Das Leben ist also dabei, sich wieder einzupendeln. Und damit ist auch die Zeit gekommen, das Corona-Tagebuch zu schließen. Wie nach AIDS wird nach COVID-19 nichts wieder ganz so sein wie früher. Aber vieles wird ähnlicher bleiben, als mir lieb ist. Trump und Erdogan. Russland und Syrien. China. Hunger und Armut. Menschen, die fliehen müssen. Und das Klimaproblem löst sich auch nicht von allein.

Brechen wir auf. Zurück geht nicht. Suchen wir also eine neue Normalität.  

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2. Juni 2020

7 Kommentare Corona-Tagebuch:
2. Juni 2020

  1. Rainer Schmidt 2. Juni 2020 at 15:23

    Großartig! Auf den Punkt! „You speek me out of the soul“.

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    1. Thomas Reinert 2. Juni 2020 at 17:18

      Habe lange mit mir gerungen. Und dann dachte ich ich schreibe es mal so wie es sich anfühlt. Meine Lektorin hat mich bestärkt. 🙂

      Antworten
      1. Rainer Schmidt 2. Juni 2020 at 20:26

        Ein Hoch auf die Lektorin 🐰

        Antworten
  2. Elke Brecht 2. Juni 2020 at 14:59

    Wieder mal ein hervorragender Text.

    Antworten
    1. Thomas Reinert 2. Juni 2020 at 17:19

      Danke dir. Passt gut auf euch auf und lasst es euch auch gut gehen.

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  3. Marc 2. Juni 2020 at 14:57

    Ein sehr schöner Beitrag. Und das Fazit spricht mir aus dem Herzen.

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