Lebensdurst-ICH: Entscheidend sind die wertvollen Momente

Es war reiner Zufall. Der spontane Entschluss, ins Herbrand’s zu gehen anstatt noch zu kochen. Am Nachbartisch eine junge Frau. Meine Frau und sie kommen ins Gespräch. Es wird eine von diesen besonderen Ehrenfelder Begegnungen. Ein paar Tage später setzen wir uns nochmal zusammen, um in Ruhe zu reden.

Sie war für ein halbes Jahr in England gewesen, 2011, für ein Auslandssemester an der Universität Brighton. Und als sie an die Folkwang Universität der Künste in Essen zurückkehrte, war eine Kommilitonin nicht mehr da. Eine lebensfrohe junge Frau, aus Kasachstan und im Abi Jahrgangsbeste in Deutsch. Vielleicht das Studienfach gewechselt, oder die Uni? Nein, das war es nicht. Die Freundin war schwer erkrankt. Krebs. Und damit begann eine Geschichte, die in Teilen sehr traurig ist. Aber auch schön.  

Unterstützung speziell für junge Erwachsene

Wenn die Ärzte zu verstehen geben, dass es nicht mehr um Jahre geht, sondern um Monate. Wenn nichts mehr ist, wie es einmal war, wenn alles ins Wanken gerät – dann braucht ein Mensch Unterstützung. In Gesprächen mit der Freundin wurde deutlich, dass es diese Unterstützung für Kinder gibt, für ältere Menschen – aber weit weniger für junge Erwachsene. Die plötzlich nicht mehr arbeiten können. Die mit Anfang 20 Frührentner werden und wissen, dass sie ihren 30sten Geburtstag, ihre Hochzeit, ein Familienleben oder eine berufliche Karriere nicht erleben werden.

Es geht auch um Geld – die Behandlung lebensbedrohender Krankheiten kann teuer sein, trotz Krankenversicherung. Es geht auch um Zuwendung, um Trost, um Gemeinsamkeit. Aber da sind auch die ganz alltäglichen Fragen: Wann das Studium abbrechen, sich exmatrikulieren? Wann die Wohnung kündigen, den Handyvertrag?  Wie ein Privatleben abwickeln, dass sich langsam auflöst?

Die Freundin hatte ihre Gedanken und Gefühle in einem Blog festgehalten. Titel: „Lebensdurst“. Die 180-Grad-Wendung dieses Lebens, das geschärfte Bewusstsein der Freundin für die Freude am Leben hat Teresa Odipo tief berührt. Und sie beschloss, etwas zu tun. Sich zu engagieren, als junge Erwachsene für junge Erwachsene mit lebensbedrohlichen Krankheiten. 

Der Anfang: Eine freundliche Absage

Der erste Versuch, bei einer ihr bekannten Firma eine Spende zu akquirieren, mündete in einer freundlichen aber eindeutigen Absage. Wie das denn gehen solle, dass sie als Privatperson Spenden verwaltet? Dass dafür doch ein eingetragener Verein wesentlich besser geeignet, im Grunde erforderlich sei. 

Teresa Odipo im Gespräch

Sie hat diese Absage als wertvollen Hinweis verstanden, ist die Sache systematisch angegangen. Hat erfahrene Menschen gesucht und gefunden, als Stipendiatin der Konrad-Adenauer-Stiftung, beim Bundesjustizministerium. Hat Gleichgesinnte mobilisiert in ihrem Freundeskreis, darunter zum Beispiel eine Journalistik-Studentin für die Öffentlichkeitsarbeit.

Gemeinsam haben sie einen Verein gegründet: Lebensdurst-ICH e.V., c/o Teresa Odipo, Köln Ehrenfeld. Das Ziel: schwerkranken jungen Erwachsenen ein Stück Normalität zurückgeben zwischen Untersuchungen und Behandlungen, zwischen Terminen mit Ärzten und Seelsorgern. Konkret: Den Austausch untereinander fördern, Wünsche erfüllen, Lebensqualität verbessern. Die Botschaft: ICH kann etwas Gutes tun. „Entscheidend im Leben,“ meint Teresa, „sind die wertvollen Momente, zu denen ich beitrage.“ Die Freundin hat die Gründung des Vereins im Jahr 2012 gerade noch miterlebt.

Mitgliedsbeitrag ab 1 Euro pro Monat – weil es nicht primär um Geld geht

Heute hat der Verein gut 170 Mitglieder, über Deutschland verstreut mit Schwerpunkt in NRW. Der Mitgliedsbeitrag beträgt 12 Euro im Jahr, einen Euro im Monat. Weil es nicht primär um Geld geht (obwohl natürlich jede Spende hilft und freiwillig auch ein höherer Mitgliedsbeitrag gezahlt werden kann). Sondern darum, dass man etwas beiträgt, was man gut kann, was man selbst gerne macht. Um so schöner, wenn man damit Gutes bewirkt. 

Überreicht durch die Bundeskanzlerin: Auszeichnung für Lebensdurst-ICH
Bundeskanzlerin Angela Merkel und Dr. Dieter Düsedau, Gründer von startsocial e.V., überreichen die Urkunde an Teresa Odipo und Johanna Ris von Lebensdurst-ICH e.V.
Foto: startsocial e.V./Thomas Effinger

„Wenn man selbst für etwas brennt, kann man auch andere Menschen inspirieren und motivieren,“ sagt Teresa. „Entscheidend ist, dass man aktiv wird. Handelt. Etwas bewirkt. Das hilft nicht nur anderen, sondern fühlt sich gut an.“ Im vergangenen Jahr wurde Lebensdurst-ICH in Berlin von der startsocial Initiative ausgezeichnet, die ausgewählte soziale Projekte im Auftrag der Bundesregierung unterstützt und fördert. Die Urkunde überreichte Schirmherrin Dr. Angela Merkel. 

Die Wünsche, die die Vereinsmitglieder erfüllen, sind so verschieden wie die Menschen, die zu ihnen finden: Eine Fahrt mit dem Heißluftballon; ein Sauerstoffgerät für mehr Mobilität; die Miete tragen für den Stall, weil der Patient – Krankheit hin oder her – sein Pferd liebt; ein Rundflug über die Heimat; einen Tag im Tonstudio, um einen Song aufzunehmen, für die eigene Trauerfeier; einen Termin im Fotostudio, um in dem Brautkleid fotografiert zu werden, das sie nie tragen wird. 

Auf unserem nächsten Törn mache ich eine Arschbombe – extra für dich.

Zu einem Highlight ist inzwischen der jährliche Segeltörn auf der Ostsee geworden, kostenlos für die Patientinnen und Patienten, günstig für die Begleitpersonen. Das Wasser, der Himmel, die Ruhe, die Gemeinsamkeit: Das alles hilft. Und dann fällt auch einmal ein Satz wie „Auf unserem nächsten Törn mache ich eine Arschbombe – extra für dich.“ Oder sie stoßen an auf das Ende einer Behandlung – und am Horizont erstrahlt ein doppelter Regenbogen. Intensiv. 

„Ich bin nicht nur dankbar für die schönen Momente, die wir immer wieder erleben,“ erklärt Teresa. Wertvoller noch als die eine Aktion sei für sie das Kontakthalten. „Die Gemeinsamkeit eröffnet mir immer wieder neue Sichtweisen auf das Heute und das Morgen.“ Wie wertvoll es sei, auf eigenen Beinen gesund durchs Leben zu gehen. Dass es nicht darum gehe, wofür man Zeit hat, sondern wie man seine Zeit investieren will. Glücklicherweise sei Zeit unter den Menschen ja, anders als zum Beispiel Geld, sehr fair verteilt.

“Euch möchte ich an meiner Seite wissen.”

Teamarbeit liegt ihr sehr am Herzen. Den Vereinsvorsitz hat die Gründerin zwischenzeitlich in die Hände von Johanna Ris gegeben; die wichtige Rolle der Schatzmeisterin hat Berit Winkens übernommen. Neben administrativen Fähigkeiten sind aber immer auch Enthusiasmus und beherztes Anpacken gefragt – so dass eine junge Patientin zum Beispiel trotz ihrer Querschnittslähmung mit an Bord gehen und mitsegeln kann.

Ein fröhliches Team: Die jungen Leute von Lebensdurst-ICH

Als Team gelingt es ihnen, Lebensdurst aufrecht zu erhalten, sich gemeinsam für die gute Sache einzusetzen und das langfristige Handeln des Vereins zu sichern. Das macht Teresa stolz. Der Dank kann dann auch einmal so lauten: „Sollte ich selbst einmal im Rollstuhl landen, möchte ich euch an meiner Seite wissen.“

Einbringen kann sich jeder

Unterstützer können sich auf unterschiedlichste Art einbringen, je nachdem, wo die eigenen Talente und Neigungen liegen. Indem sie Zeit mit Betroffenen verbringen oder helfen, Wünsche zu erfüllen. Indem sie Kliniken kontaktieren und über das Angebot des Vereins informieren. Indem sie Vereinsmitglieder als Mentoren coachen und beraten. Denn das Erlebte kann emotional belasten, persönliche Schutzfaktoren sind wichtig.

Ein Flyer mit den wichtigsten Informationen ist gerade fertig geworden. Als nächstes soll die Webpage neu aufgesetzt werden. Einmal im Monat findet ein Treffen mit Betroffenen statt. Einmal im Monat kommt das Team zusammen, um Bilanz zu ziehen und nächste Schritte zu planen. Die aktuellen Termine stehen auf der Homepage. Interessenten sind immer herzlich willkommen.

Eigene Räume – das wäre schön

Welche Pläne hat der Verein? Der Aufbau lokaler Gruppen in deutschen Großstädten ist ein Ziel, und letztlich auch eine Internationalisierung. Denn das Thema kennt keine Grenzen. Aber ganz schlicht und einfach wären eigene Räumlichkeiten schön, für die Treffen zum Beispiel. Denn die finden bisher im Herbrand’s statt und im Ehrenfelder COLABOR. 

Was wäre ein Traum? Ein kleines Häuschen mit Blick aufs Meer, für Betroffene, zwei bis drei Personen. Um wertvolle Zeit gemeinsam zu verbringen, in schöner Umgebung. Das klingt tatsächlich wie ein Traum, aber für Teresa ist das keine Spinnerei. Der erste Schritt ist ein Finanzierungskonzept. Dann braucht man einen Architekten.

Ein Schritt nach dem anderen.

Es geschieht nichts Gutes, außer man tut es.


Teresa Odipo, Jahrgang ’87, ist in Dischingen in der Nähe von Heidenheim in Schwaben aufgewachsen. Ihr Vater stammt aus Kenia; die Eltern haben sich während des Studiums kennengelernt, er als angehender Agraringenieur und sie als angehende Lehrerin. 

Nach dem Abi blieb es für die Tochter auch im Studium bei den Schwerpunkten Musik (Klavier und Gesang) und Sport. Zur Zeit arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Sporthochschule Köln und schreibt an ihrer Doktorarbeit: Wie sind die Einstellungen von Pädagogen zum Thema Inklusion im Schulsport, und inwieweit fühlen sie sich in der Lage, einen guten inklusive Unterricht für Schülerinnen und Schüler mit und ohne Behinderung oder Beeinträchtigungen anzubieten. 

Nebenbei entstehen erste Songs, die sie derzeit mit ihrem Kollegen Sebastian Ruin professionell in Köln einspielt; ein musikalisches Bühnenprogramm, das bis hin zu Klavierkabarett-Inhalten viel Abwechslung mit sich bringen soll, nimmt langsam Gestalt an.

Zwei bis dreimal die Woche ist sie Begleitläuferin für einen blinden Freund. Dann drehen die beiden, mit einer lockeren Laufschlinge am Handgelenk verbunden, morgens ihre Runden. Um 6 Uhr. Manchmal auch erst um halb sieben.

Ihr Engagement in „ihrem“ Verein wird nicht weniger werden, auch wenn sie sich etwas aus der Führungsrolle zurückgezogen hat. Denn der Verein soll ja weiterleben, wenn es sie eines Tages nicht mehr gibt. Sagt sie fröhlich.  

c/o Teresa Odipo
Weinsbergstraße 183
50823 Köln

Lebensdurst-Ich e.V.
Kölner Bank eG

IBAN: DE10 3806 0186 6403 0450 10
BIC: GENODED1BR

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